Lesvos als Sinnbild der ‚neuen‘ EU Migrationspolitik?
Nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause geht es wieder los: In den letzten zwei Septemberwochen hat eine vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) finanzierte Summer School im Masterprogramm ‚International Social Work with Refugees and Migrants‘ der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt auf Lesvos (Griechenland) stattgefunden. In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Philosophie München, der griechischen University of the Aegean und der SchlauWerkstatt München sowie einem interdisziplinären Konsortium aus deutschen, griechischen und internationalen Organisationen wurden zwei Wochen um das Thema interdisziplinärer Perspektiven auf Griechenlands Außengrenzen und den Umgang mit Migration und Flucht gestaltet.
„Unsichtbarmachen“ als Migrationsstrategie
Es wurde deutlich, so Prof. Dr. Tanja Kleibl, die die Summer School konzipiert hatte, wie die aktuelle Ausrichtung der EU-Migrationspolitik dazu führe, dass die Menschenrechte Geflüchteter an den europäischen Außengrenzen verletzt würden. Durch gezielte Maßnahmen seien geflüchtete Menschen aus dem öffentlichen Bild verbannt worden.
„Während unserer diesjährigen Summer School auf Lesvos fanden wir eine implizite EU-Migrationsstrategie vor: Unsichtbarmachung. Illegale sogenannte `push-backs`, das Zurückdrängen von Geflüchteten und das Verstecken von Geflüchteten in dem hinter Hügeln errichteten neuen Lager Kara Tepe machten die prekäre Situation von Geflüchteten der Öffentlichkeit gegenüber unsichtbar und führten zur Annahme, dass der Einsatz für Schutz und ein menschenwürdiges Leben für Geflüchtete nicht mehr nötig seien. Das Gegenteil ist der Fall,“ resümierte Prof. Dr. Tanja Kleibl.
Die Studierenden lernten vor Ort, dass Menschen, die im Camp leben, nur noch für wenige Stunden in der Woche aus dem Camp herausdürfen. Angebote außerhalb des Camps können so nur unregelmäßig - wenn überhaupt - genutzt werden. Die Entscheidung darüber, wer eine offizielle Erlaubnis bekommt, das Camp zu verlassen, erscheint teilweise willkürlich. Die Menschen sind somit zu großen Teilen aus dem Stadtbild und aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Die Öffentlichkeit ist wiederum weitestgehend aus dem Camp ausgeschlossen. Auch die Studierenden konnten das Camp nur von außen sehen. Ein Besuch, der bei der vorherigen Summer School in 2019 möglich war, fand diesmal, auch nach mehrmaligen Anfragen, nicht statt.
Kaum Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten für geflüchtete Menschen
Eine Fokus-Diskussion mit Geflüchteten war ein Augen-öffnender Moment für Studierende: Dennis Kuperus erzählte, er habe damit gerechnet, über die schlimmen Bedingungen im Camp zu hören. Was ihn wirklich schockiert habe, seien die Erzählungen darüber gewesen, wie die vielen Hilfsangebote und Strukturen für die Menschen im Camp aufgebaut wurden, ohne jemals die Bewohner:innen selbst konsultiert zu haben. Menschen würden nicht nach ihren Bedürfnissen gefragt, es werde vielmehr erwartet, dass sie sich anpassten, reflektierte Jasmin Blume die Gespräche. Mitstudentin Johanna Rave griff dies ebenfalls auf. Für sie bedeute das Narrativ, die Geflüchteten nur als Kollektiv, als Opfer oder aber als Gefahr wahrzunehmen, dass die Menschen nicht als Individuen mit Grundrechten betrachtet werden.
Viele Fragen, die auch in Deutschland wichtig sind
In Gesprächen mit Mitarbeitenden von Menschenrechtsorganisationen und Geflüchteten vor Ort hörten die Studierenden, dass viele der vermeintlichen Hilfen, die aktuell auf der Insel für geflüchtete Menschen angeboten werden, oftmals keine wirklichen Hilfen darstellen oder zumindest nicht als solche wahrgenommen werden. Dies ist besonders in dem sozialarbeiterischen Kontext, in dem sich die Studierenden und Lehrenden der FHWS bewegen, eine wichtige Erfahrung. Wie kann Soziale Arbeit sich positionieren, um einen Mehrwert zu haben? Kann internationale Soziale Arbeit einen Mehrwert leisten, oder verursachen falsche Annahmen, fehlende politische Analyse und der schlichte Wille ‚zu helfen‘ nicht mehr Schaden? Inwieweit halten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Sozialarbeitende mit ihrer Arbeit im und um das Camp das menschenrechtsverletztende System der Abschottung und Unsichtbarmachung aufrecht, fragte sich Drittsemester-Studentin Katja Haas.
Petra Daňková, begleitende wissenschaftliche Mitarbeiterin der FHWS, merkte Folgendes an, wenn sie die Erfahrungen auf Lesvos mit lokalen Realitäten in Bayern verbindet: „Die Fragen, die uns auf Lesvos begleiteten, sind wichtig für die Soziale Arbeit überall. Wir könnten uns genauso fragen, wie unsichtbar die Menschen in der ANKER-Einrichtung in Geldersheim bei Schweinfurt gemacht werden oder wie die Angebote für Geflüchtete in Deutschland mit diesen Menschen gemeinsam entwickelt und reflektiert werden können.“
Kleibl weiter: Lesvos steht womöglich sinnbildlich für die gesamte ‚neue‘ Migrationspolitik der EU. Schaue man sich an den Außengrenzen der EU um, finde man viele ähnliche Situationen, wie die jüngsten Medienberichte aus Bosnien, Kroatien und Griechenland zeigten (Vgl. Der Spiegel, 6.10.2021, „Die Schattenarmee, die Flüchtlinge aus der EU prügelt“).
Lesvos im Fokus
Griechenland als Land an der europäischen Außengrenze ist seit Jahren immer wieder im Fokus nationaler wie globaler Berichterstattung und Politik. In dem Mittelmeerland kommen besonders viele flüchtende Menschen an. Insbesondere Lesvos, eine ägäische Insel nur ca. zehn Kilometer Luftlinie von der Türkei entfernt, ist ein Hauptankunftsort für Menschen, die aus der Türkei versuchen, europäisches (Fest-)Land zu erreichen. Dies ist jedoch kaum noch möglich, seitdem die EU vor einigen Jahren mit der Türkei und anderen Drittstaaten Verträge schloss, um die Migration nach Europa zu ‚steuern‘ und u.a. durch die Externalisierung und Intensivierung von Kontrollen undurchlässige und erweitere Grenzräume schaffte. Im ersten Halbjahr 2020 befanden sich im Erstaufnahme- und Registrierungslager Moria knapp 20.000 Menschen, ungefähr 17.500 Menschen mehr als geplant. Die Strukturen der Insel Lesvos, nie ausgelegt für die Aufgaben, die die EU ihr zuschrieb und immer noch zuschreibt, brachen im September 2020 zusammen, als das Lager Moria abbrannte. Seitdem hat Griechenland gemeinsam mit der EU-Kommission das Übergangslager Kara Tepe, direkt an der Küste auf einem ehemaligen Militärplatz gelegen, zu einem gut bewachten, geschlossenen Camp ausgebaut.
Master of Social Work with Migrants and Refugees, FHWS
Der Masterstudiengang "International Social Work with Refugees and Migrants (MRM)" ist ein anwendungsbezogener, konsekutiver, im Hinblick auf Inhalt und Austausch international ausgerichteter, englischsprachiger Studiengang. Das Studium vermittelt fachliche, soziale und professionsbezogene Kompetenzen für das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit mit Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund im internationalen und nationalen Kontext. Auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse und theoretischer Bezüge werden die Studierenden in interkultureller, rechtlicher, pädagogischer und psychologischer Hinsicht befähigt, für die spezielle Lage von migrierten und geflüchteten Menschen lösungs- und menschenrechtsorientierte Handlungsoptionen zu entwickeln und umzusetzen. Sie können im Feld der Politiken sowohl der örtlichen, als auch internationalen Akteure agieren. Das Professionsverständnis einer Sozialen Arbeit im Migrationskontext wird dabei weiterentwickelt.
abitur und studium: Lesvos als Sinnbild der neuen EU-Migrationspolitik
Kontakt Hochschule Würzburg-Schweinfurt
Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
Münzstr. 12
97070 Würzburg
Prof. Dr. Tanja Kleibl und Petra Daňková
0931-3511-8225 / 8450