Studierende der THWS an Bohrmaschine, c Stefan Bausewein

Vortrag „Autismus - Ein autobiografischer Alltagsbericht“ mit fachlichen und persönlichen Aspekten

17.05.2018 | thws.de, Pressemeldung, FAS
Die Überzeugung des Referenten Julian: „Autismus und meine Persönlichkeit bilden eine Symbiose, die unumkehrbar ist“

Der Campus Com¬munity Dialogue sowie die Studierendenvertretung der Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt luden zum Vortrag „Autismus - Ein autobiografischer Alltagsbericht“ ein. Nicht erst seit der Verfilmung „Rain Man“, der die komplexe Entwicklungsstörung spielerisch einem breiten Publikum näherbrachte, ist das Interesse an weitergehenden Kenntnissen auch in Fachkreisen an Autismus vorhanden.

Im Anschluss an die Begrüßung durch Professor Dr. Dieter Kulke, Leiter des Forums Inklusion, und Maja Mühleck, Vertreterin der Studierendenvertretung Soziale Arbeit, wurde die Frage geklärt, welche Definitionen über Autismus vorliegen. Professor Dr. Jürgen Seifert, der die Professur für medizinische Grundlagen in der Sozialen Arbeit innehat, erläuterte die Bandbreite an Autismus-Spektrum-Störungen und vermittelte den zahlreich erschienenen Teilnehmern der Veranstaltung ein erstes Grundlagenwissen.

Den „autobiografischen Alltagsbericht“, so der Titel des Abends, übernahm der Referent Julian. Der 26-Jährige hat mit 18 Jahren die Diagnose Asperger-Autismus erhalten. Er stellte sich kurz vor und schilderte anschließend seinen bisherigen Lebensweg: Seit dem Kindergarten vermuteten die Erzieher und Betreuer unterschiedliche geistige und körperliche Behinderungen bei ihm, ein Zivildienstleistender begleitete ihn anschließend kontinuierlich in die Schule. Auf Drängen seiner Mutter schaffte er den erfolgreichen Besuch der Hauptschule und erreichte dort mit 16 Jahren einen guten Abschluss. Julian: „Ich habe dann gemerkt, dass ich es schaffen kann, wenn ich meinen Grips zusammennehme.“ Nach seinem Abschluss blieb die Frage, wie es weitergehen sollte, zunächst offen.

Er verbrachte zwei Jahre in Berufsvorbereitungskursen, die jedoch ohne Erfolg verliefen. Mit achtzehn Jahren sprach er auf einer Familienfeier mit einem Verwandten, der eine Ahnung hatte: „Autismus wäre doch was für dich“. Diese Aussage, so Julian, sei für ihn der entscheidende Wendepunkt gewesen – er fing an zu recherchieren und kam zu dem Ergebnis, dass er tatsächlich ein Autist sei. Dies bestätigte auch den Verdacht seiner Eltern, den sie seit seinem 12. Lebensjahr hegten. Heute sei er froh darüber, dass seine Eltern nicht schon damals den Verdacht geäußert hatten, denn dann hätte er alles, was nicht funktionierte, auf seine Diagnose geschoben und hätte nie die Erfolge erreicht, auf die er blicken könne. Die Diagnosestellung habe auf ihn dreierlei Auswirkungen gehabt: „Für die Vergangenheit ist mir einiges klargeworden; in der Gegenwart hatte ich endlich etwas in der Hand; und für die Zukunft konnte ich nun meinen eigenen Weg gehen und mich damit arrangieren.“

Nach der Diagnose arbeitete er mit einem Coach zusammen und begann eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten. Die Idee, öffentliche Vorträge zum Bereich des Autismus zu halten und Interessierten einen persönlichen Einblick zu geben, entstand ebenfalls in Gesprächen mit seinem Coach. Julian ließ sich gern motivieren, da dieser Plan drei Dinge vereine, die er sehr gerne mag: Zug fahren, Menschen aufklären und neue Leute treffen. Seither habe er über hundert Vorträge gehalten und verwende seinen gesamten Urlaub und Überstunden für die Reisen und Vortragsreihen in ganz Deutschland.

Wie denkt und erlebt ein Autist die Welt? Julian zeigte es an einem anschaulichen Vergleich auf: „Man stelle sich vor, man steht auf einer Autobahnbrücke mit einer sechsspurigen Straße darunter und versucht eine Stunde lang, alle Kennzeichen der vorbeifahrenden Autos zu notieren.“ Eigentlich unmöglich und sehr anstrengend. Als Autist arbeite sein Gehirn genauso: Es selektiere nicht nach wichtigen und unwichtigen Reizen, es nehme einfach ungefiltert alles auf. Sein, wie er es nennt, „innerer Takt“, der Gedankenumsatz seines Gehirns, sei somit leicht erhöht. Dies könne er auch an seiner bevorzugten Musikrichtung zeigen, dem Hardcore-Techno, den er in einem selbstgedrehten Video demonstrierte. Diese Musikrichtung mit etwa 200 Beats per Minute sei schneller als sein Gehirn, daher sei dies entspannend für ihn.

Darüber hinaus gab er Einblicke in die Themen der sozialen Beziehungen und Liebe. Das seien bei Autisten bekanntermaßen schwierige Themen. Er löse dies, so Julian weiter, mit einer intellektuellen Kompensation: Er lege sich Strategien zurecht, analysiere die Menschen genau und bereite sich mit Hintergrundwissen über die jeweilige Person auf ein Gespräch vor, sofern er es vorausplanen könne. Seine wichtigste Informationsquelle hierbei sei Facebook, in dem er wichtige Informationen herauslesen könne. Ein großes Ziel in seinem Leben sei es außerdem, eine Partnerin zu finden. Gemeinsame Kinder könnte er sich vorstellen, wenn er eine Lebensgefährtin fände, die Empathie für mehrere hätte, denn wie solle er seinem Kind Gefühle zeigen, wenn er diese doch nur in der Theorie kenne. Außerdem werde Autismus zu neunzig Prozent vererbt. Er habe Angst davor, dass sein Kind vielleicht mit dem Autismus nicht so gut zurechtkommen könne wie er.

Im Anschluss an seinen Vortrag konnten das Publikum dem jungen Mann Fragen stellen. Wie er sich entscheiden würde, wenn er die Wahl hätte, sein restliches Leben mit oder ohne Autismus leben zu können: „Wenn ich mich entscheiden müsste, autistisch zu sein oder nicht, würde ich mich pro Autismus entscheiden, denn Autismus und meine Persönlichkeit bilden eine Symbiose, die unumkehrbar ist.“